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  • AutorenbildAntje

Das Leben

10. Mai 2022… Der Frühling hat Einzug gehalten. Überall blüht und duftet es, das Leben erwacht, im Kleinen und im Großen. Auf dem Dorf werden Kälbchen und kleine „Pocketschafe“, wie mein Mann ganz verzückt ein Minischaf getauft hat J, geboren. Der Kreislauf des Lebens – Geboren werden, Wachsen, Reifen, Altern und Sterben, ist spürbar und erlebbar… vor allem auf dem Dorf, in der Natur. Wir alle durchlaufen diesen Kreislauf täglich. Wir erwachen, wachsen und reifen an unseren Aufgaben und Begegnungen des Tages, altern daran mehr oder weniger und legen uns am Abend schlafen.

In den letzten Wochen und Monaten habe ich die einzelnen Phasen des Kreislaufes unterschiedlich durchlaufen. Die Phase des inneren Wachstums, der Erkenntnisse, hat viel Raum eingenommen. Schmerzlich ist mir jedoch erst in der letzten Woche bewusst geworden, in welcher Struktur ich noch immer lebe. Disziplin, Strenge, ein „Immer weiter“, nicht innehalten, tägliche To-Do-Listen, hohe Anforderungen an mich, mein Leben, meine Zukunft, haben mich innerlich nicht dahin geführt, wo ich Ende letzten Jahres gedacht hatte, zu sein. Der „innere Antreiber“ in mir hatte das Sagen, aus dem Gefühl und dem Wunsch heraus, wachsen und reifen zu müssen. Ich dachte, wo meine Werte doch stabil sind, das Myelom derzeit nicht aktiv ist, ist es förmlich meine Pflicht, wieder am Arbeitsleben teilzunehmen. Menschen zu beraten, zu coachen, ist meine Leidenschaft. Um jedoch einen sicheren Zuverdienst zu haben, ist ein Minijob ratsam und notwendig. Diesen darf ich neben meiner kleinen befristeten Erwerbsminderungsrente, ausüben. Somit habe ich darauf den Fokus gelebt. Ich habe mir meine Zukunft ausgemalt, in der die Erkrankung vorerst keinen Raum einnehmen wird. Diese Hoffnung ist in den letzten Tagen vorerst gestorben…


Eine liebe Bekannte, ebenfalls am Multiplen Myelom erkrankt, hat mir berichtet, dass sie wieder therapiert werden muss. Nach zwei Stammzelltransplantationen mit Hochdosistherapie, einigen Jahren Erhaltungstherapie und nur einem Jahr! in gesunder Freiheit, ist das Myelom wieder erwacht. Diese Tatsache hat mich zutiefst erschüttert und unglaublich traurig gemacht. Hat es mir doch gezeigt, wie brutal und gnadenlos unsere Erkrankung ist. Besonders erschüttert hat mich dabei die Erkenntnis, dass die liebe Bekannte und auch ich, die „Erkrankungsfreie“ Zeit, bisher überhaupt nicht für uns genutzt haben! Um bei mir zu bleiben… Ich habe weitergemacht, wie zuvor. Habe mir kein Durchatmen und Innehalten zugestanden, wie noch letztes Jahr geglaubt.


Und jetzt wurde auch ich auf den Boden der Tatsachen geholt … auch mein Myelom bewegt sich. Mein Oberarzt schätzt die Werte noch als stabil ein. Macht mir Mut und nimmt mir die Angst. Auf dem Papier jedoch steht bereits: Immunfixation schwach positiv! Bisher stand dort: Immunfixaktion negativ. Das hieß für mich: yes, alles ist gut. Ich wende mich dem Leben, der Zukunft, ohne Erkrankung, zu. Den neuen Befund von „schwach positiv“, muss ich erst einmal verarbeiten und für mich „einordnen“. Was bedeutet das genau? Muss ich mich bald wieder in Therapie begeben? Wann steigen die Werte wieder an? Bei Befunden wie diesen, durchläuft man die Phasen des Lebenskreislaufes viel schneller und sehr intensiv. Die Phase des Sterbens, des Vergehens, nimmt mehr Raum in den Gedanken ein. Das macht einem bewusst, wie kostbar das Leben, jeder noch so kleine Augenblick, das Hier und Jetzt, ist! Ich hatte in den letzten Tagen zwei sehr emotionale Momente, mit vielen Tränen und einem tief gefühlten Schmerz. Allein war ich dabei nicht. Vorgestern nahm mich dabei mein Mann in den Arm und gestern hörte mir die liebe Bekannte am Telefon zu. Ich danke euch Beiden dafür.


Und kann in diesem Zusammenhang nur sagen: liebe Freunde, Familie, Bekannte und Wegbegleiter, teilt euch mit. Sprecht über eure Gefühle, Ängste und Sorgen. Emotionale Schmerzen allein zu ertragen und zu durchleben ist Kräftezerrend. Auch wenn es dem Gegenüber Angst macht, mit einer schweren Krankheit, dem Tod, der letzten Phase des Lebens konfrontiert zu werden, kann ich nur dazu ermutigen, zu zuhören, Fragen zu stellen, sich in den Arm zu nehmen. Zuhören, ohne zu bewerten und zu urteilen sowie Berührungen in Form eines Streichelns, einer Umarmung, einer liebevollen Geste, ist das Wichtigste und Größte Geschenk, das wir uns machen können. Das nenne ich inneres Wachstum! Sich die Endlichkeit des Lebens vor Augen zu führen, das Sterben als Teil unseres Lebenszyklus zu akzeptieren, lässt uns das Leben bewusster wahrnehmen.


Ich bin dankbar für mein Leben. Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben und versuchen, trotz meiner Erkrankung, das Leben zu meistern. Denn in mir existiert eine unbändige Kraft, die gelebt werden will.


Ganz im Sinne von Wilhelm von Humboldt:

„Es ist unglaublich wie viel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag.“


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